Livia Di Giovanna
Auf der Fotografie wird das innere von zwei Handflächen abgebildet, ein Selbstportrait der Künstlerin. Zwei – oder sind es mehrere – Leitern, deren Seitenleisten teilweise ineinanderverkeilt sind und an einigen Stellen aneinanderlehnen, ste- hen in prekärer Eintracht an einer weissen Wand. Als würde ein Gegenstand einen Schatten werfen, verbindet sich in ohne titel, 2013 der Gegenstand, sein Schatten sowie deren mögliche Verbindung zu einem Ganzen.
In schneller Abfolge wechseln die Perspektiven auf ein tischähnliches Objekt und geraten zwischen frontaler Ansicht und der Aufnahme von Details durcheinander. In hohem Tempo stellen sich Flächen auf und legen sich zur Seite, Kanten, Aus- und Einschnitte folgen aufeinander. Als würde man einer Abwicklung folgen: Darauf bedacht, für kurze Zeit ein System erahnen zu wollen, nur um festzustellen, dass die Bewegungen eher eine Geste denn ein System charakterisieren.
Die Idee zur Arbeit Blizzard erklärt Livia Di Giovanna mit einem Bild: Etwas in die Luft werfen und dieses gleichzeitig von allen Seiten sichtbar machen. eine Hand die einen Spiegel hält, der vor dem Hintergrund eines Gebäudes die Möglichkeit eines Fensters auf die andere Seite des Raumes öffnet. Die kleinformatige Fotografie, welche auf eine dicke MDF- Platte angebracht wurde, versinnbildlicht eine Montage. Die Illusion unterscheidet sich nicht von anderen erzeugten Bildideen, aber dieses Bild visualisiert das Mittel zur Erzeugung seiner illusion. Die Montage irritiert durch das analoge vorgehen. von-Hand-erzeugt, eine analoge Montage sozusagen, irritiert das Bild. Als würde sich ein Kreislauf schliessen, stehen wir wieder am Anfang: Das Bild der Hände der Künstlerin, die ausdauernd sägt und zusammenbaut, in derselben Weise, wie sie am Bildschirm ausschneidet und zusammenstellt.
„Wissen Sie, was Sie brauchen?" – diese Frage stellt Max Frisch in seinem letzten Fragebogen. in diesem Fragebogen geht es um Eigentum und Besitz, darum, ob man gerne Geschenke macht oder ob man Kunst sammelt. Livia Di Giovanna erwähnt als Bedingung für ihre Arbeit das begriffliche Duo offenheit und Wachheit. Die Offenheit, eine Idee zu verwirklichen und dabei die Bedingungen als Chance und nicht als Problem miteinzubeziehen. Die Tatsache, dass sich das Abarbeiten an Umständen in ungeahnte Verdichtungen potenzieren kann, scheint auf den ersten Blick simpel. Nicht umsonst wählt die Künstlerin das Motiv der Hände als Portrait ihrer selbst: Das Hand-Anlegen, das Anfertigen, Ertasten und in eine räumliche, reale Situation Überführen sind zentrale Aspekte ihres Schaffens. Während dieses Prozesses den richtigen Moment nicht zu verpassen, wach zu sein, damit ihr Weiterreichendes nicht „entwische".
Während ihres Arbeitsprozesses stösst die Künstlerin immer wieder auf dasselbe Spannungsfeld: Eine Idee, die sie zeichnerische festhält, ist präzise und einfach – bei der Übersetzung in den dreidimensionalen Raum erscheint manches – im Vergleich zur Zeichnung - etwas ungenau.
Für Livia Di Giovanna trägt diese Form der Ungenauigkeit dazu bei, eine präzise Lösung zu finden. Wie bei einem mathematischen Dreisatz lässt sich ein weiterer wichtiger Aspekt zur Erläuterung von Livia Di Giovannas Werken hinzufügen. Die Vorstellung, Architektur in Architektur zu setzen. Dabei versteht es die Künstlerin, den menschlichen Körper in seiner Dimension miteinzubeziehen. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass Arbeiten in einem Ausstellungskontext von unterschiedlichen Menschen nicht nur gesehen, sondern im besten Falle erfahren werden können. Die Anordnung der Arbeiten folgt einer klaren Dramaturgie, die unmittelbar eine Sogwirkung entfaltet. Obschon die einzelnen Arbeiten in sich inhaltlich abgeschlossen sind, wirkt die Qualität der Zusammenhänge nach. Das imaginierte Dazwischen erinnert an zusätzliche Elemente einer Architektur wie Treppenstufen oder ein weiteres Fenster. Die formale Sprache reduziert sich auf das Wesentliche, nichts ist zuviel, wobei trotz der klaren Formensprache keine hermetische Komposition entsteht. Als gesamte Abwicklung bleibt jene Offenheit gewahrt, die Livia Di Giovanna für ihre Arbeitsweise als erforderlich beschreibt.